Lernen als Infragestellung der eigenen Grundannahmen und Identität
Lernen wird im Alltag oft als Erwerb von Wissen verstanden: neue Fähigkeiten, neue Informationen, neue Techniken. Doch in einem tieferen, geistigen Sinn bedeutet Lernen weit mehr.
Es ist ein Prozess, in dem der Mensch seine grundlegenden Annahmen über sich selbst und die Welt überprüft.
Echte Lernprozesse greifen nicht nur auf der Ebene des Wissens, sondern im Zentrum unserer Identität.
Lernen heißt, sich selbst infrage zu stellen.
Gregory Bateson hat in seiner Theorie der „Levels of Learning“ diese Differenzen präzise herausgearbeitet. Während Learning I den Erwerb von konkreten Fähigkeiten umfasst und Learning II die Veränderung von Denk- und Verhaltensmustern beschreibt, bezeichnet Learning III einen radikalen Bruch: das Lernen, das die Rahmenbedingungen des eigenen Lernens selbst verändert. Learning III ist ein Transformationsprozess, der die Grundannahmen, aus denen der Mensch seine Welt konstruiert, erschüttert und neu ordnet.
Es betrifft nicht, was wir wissen, sondern wer wir im Prozess des Wissens eigentlich sind.
Wenn wir von Lernen als Infragestellung der eigenen Identität sprechen, berührt das genau dieses Feld. Menschen handeln und denken innerhalb von Mustern, die unbewusst wirken: kulturelle Prägungen, erfahrungsbasierte Überzeugungen, narrative Selbstbilder. Diese Muster erzeugen Stabilität, aber sie sind zugleich Begrenzungen.
Lernen beginnt dort, wo diese tief verankerten Grundannahmen sichtbar werden – und damit verfügbar für Veränderung.
Ein solcher Lernprozess ist mit Irritation verbunden. Die bisherigen Erklärungssysteme geraten ins Wanken. Eigenes Verhalten, eigene Motive, eigene Wahrheiten erscheinen plötzlich in einem neuen Licht. Bateson beschreibt Learning III als eine Art „metanoia“, eine geistige Neuausrichtung, die selten freiwillig geschieht, weil sie Unsicherheit erzeugt. Sie fordert die Bereitschaft, das Vertraute zu verlassen und die eigenen Kategorien infrage zu stellen. Doch gerade diese Bewegung schafft die Möglichkeit, Wirklichkeit neu zu begreifen.
Wer seine Grundannahmen verändert, verändert die Grundlage seiner Selbstwahrnehmung.
Neue Erkenntnisse werden nicht einfach hinzugefügt; sie verändern die Logik, aus der heraus man denkt und handelt.
Diese innere Veränderung zeigt, dass echte Lernprozesse niemals rein intellektuell sind. Sie berühren die emotionale, existenzielle und biografische Dimension des Menschen.
Die Bedeutung dieses Ansatzes wird besonders dort sichtbar, wo Menschen in komplexen Situationen Orientierung suchen: gesellschaftliche Umbrüche, persönliche Krisen, berufliche Neuorientierungen. In solchen Momenten genügt es nicht, mehr Wissen anzusammeln. Vielmehr braucht es die Fähigkeit, die eigenen gedanklichen Rahmen zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu setzen.
Lernen im Bateson’schen Sinn wird damit zu einem aktiven Gestaltungsprozess: Der Mensch erzeugt ein neues Verständnis von sich selbst und der Welt, indem er Perspektiven erweitert und alte Muster hinter sich lässt.
Learning III beschreibt somit das höchste, aber auch das anspruchsvollste Niveau des Lernens. Es ist selten, aber entscheidend: Ohne solche tiefen Revisionen bleiben Menschen in ihren bestehenden Mustern gefangen. Mit ihnen jedoch entsteht eine neue Form geistiger Freiheit – die Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu überschreiten.
Es ist ein Prozess, der die Identität formt, weil er die Fundamente unseres Denkens berührt.
Wer lernt, erneuert sein inneres Koordinatensystem.
Und in dieser Erneuerung liegt die Möglichkeit, die Welt nicht nur anders zu sehen, sondern sich selbst als Teil einer größeren, offenen und veränderbaren Wirklichkeit zu verstehen.
2025-12–03